Konvivialität - Kunst und Praxis gelungenen Zusammenlebens
Das Streben nach Konvivialität stellt das gute Leben aller als konkrete Utopie und Messlatte für politische Maßnahmen in den Mittelpunkt. Durch die Brille der Konvivialität werden die Menschen als soziale Wesen sichtbar, deren größter Reichtum in ihren Beziehungen zueinander besteht. Die Arbeit an der Qualität dieser sozialen Beziehungen ist eine zentrale Aufgabe unserer Gemeinschaften, Gemeinden und Gesellschaften.
Der Austausch, die Vernetzung, das voneinander Lernen von sozial engagierten ChristInnen aus verschiedenen Ländern Europas ist ein Kernanliegen des Cardijn Vereins.
Unser lieber Kollege im Vorstand, Tony Addy, steht dafür in besonderem Maß. In regelmäßigen europäischen Seminaren und Trainings beschäftigen wir uns mit den Fragen „Wie ist gutes Leben für alle möglich?“ und „Welche gesellschaftliche Rolle können Kirchen, Glaubensgemeinschaften dabei spielen“, jeweils in europäischer Perspektive.
Diese Fragen bearbeiten wir mit regionalen und europäischen PartnerInnen auf zwei Ebenen: Durch die Weiterentwicklung einer befreienden und gesellschaftsverändernden Theologie in Europa ebenso wie durch Weiterbildung und Austauschmöglichkeiten für Menschen, die sich für Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen engagieren. Die Idee der Konvivialität, der Kunst und Praxis des gelungenen Zusammenlebens, die Tony Addy in diesem Text mit Blick auf die christlichen Kirchen aufbereitet, sehe ich als wichtigen Impuls für diese unsere Arbeit.
Blicken wir – wie in unseren befreiungstheologischen europäischen Seminaren – auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, sehen wir zunehmend, wie ein marktradikales politisches Denken und Handeln vielerorts die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten unter Druck bringt: Durch verschärfte Spaltungen zwischen Arm und Reich, Kürzung von sozialen Leistungen, hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit und Druck auf ArbeitnehmerInnenrechte, um nur einige zu nennen.
Es profitieren europaweit rechtspopulistische und -extreme PolitikerInnen, die es verstehen, gesellschaftliche Spannungen auf die Schwächsten, Fremde und Schutzbedürftige abzuleiten. Der Ansatz von „Suchen nach Konvivialität“ als Kunst und Praxis eines gelungenen Zusammenlebens, bietet einen stabilen Ausgangspunkt für eine Kritik dieser Entwicklungen.
Marktradikale Politiken geben den Interessen der „großen Wirtschaft“ den Vorrang und vertreten dabei ein äußerst einseitiges Bild von Menschen: als voneinander getrennte, konkurrierende, den persönlichen Vorteil suchende ManagerInnen ihrer selbst
Dagegen stellt die Suche nach Konvivialität das gute Zusammenleben aller als konkrete Utopie und Messlatte für politische Maßnahmen in den Mittelpunkt. Durch die Brille der Konvivialität werden Menschen als soziale Wesen sichtbar, deren größter Reichtum in ihren Beziehungen zueinander besteht. In unseren Gemeinschaften, Gemeinden, Gesellschaften an der Qualität dieser sozialen Beziehungen zu arbeiten, wird damit als zentrale Aufgabe erkennbar.
In unserer Zusammenarbeit als Cardijn-Verein mit PartnerInnen in lebendigen europäischen Netzwerken erleben wir eine Fülle an konkreten diakonischen und sozialen Initiativen, Begegnungsräumen, partizipatorischen Sozialprojekten … die sich der Verbesserung von sozialen Beziehungen und konkreten Lebensbedingungen vor Ort widmen.
Konvivialität als Kernkonzept diakonischer Arbeit ermöglicht es, die einzelnen Aktivitäten als Beiträge zu einer umfassenden Suche nach Konvivialität zu verstehen. Es sind praktische Modelle konvivialen Zusammenlebens vor Ort und Arbeit an der Ausgestaltung einer konkreten Utopie einer konvivialen Gesellschaft und Wirtschaft.
Über die Fragen des menschlichen Zusammenlebens hinaus nimmt der Begriff der Konvivialität auch die Qualität unserer Beziehungen zur Natur, also die Ökologie, in den Blick.
Damit bietet das Konzept eine Fülle von Möglichkeiten, sowohl in der weiteren Ausformulierung einer befreienden Theologie als auch im konkreten zivilgesellschaftlichen Engagement, Brücken zwischen den drängenden sozialen und ökologischen Fragen unserer Zeit zu schlagen.
Ich bin dankbar für die intensive Auseinandersetzung, zu der mich dieser Text angestoßen hat und hoffe darauf, dass dieser Impuls viele christlich und sozial engagierte Menschen erreichen kann.
Rainer Rathmayr
Obmann des Cardijn Vereins
Linz, Österreich
Dezember 2018